Lang war der Weg

Kurz nach seinem Antritt als Leiter der Schnelleinsatzeinheit im Jahre 1993 sah sich der Zugführer Jan Kämpen mit der Problematik der Absturzsicherung von Helfern und der Frage der Rettung von Verunglückten aus großen Höhen konfrontiert. Die Tatsache, dass Helfer seines Zuges alpine Kletterer waren, sowie der Spezielle Rettungsdienst (SRD) der kurz zuvor ins Blickfeld gerückten Neuen Bundesländer weckten die Idee, im Ortsverband Braunschweig eine Höhenrettungsgruppe zu installieren.Im Herbst 1994 fand an der Brand- und Katastrophenschutzschule Heyrothsberge eine Fachtagung "Auf- und Abseilverfahren" statt, zu der die THW-Helfervereinigung Braunschweig e.V. zwei Helfer des Ortsverbandes entsandte. In der Folgezeit wurde die vorhandene Literatur gesichtet, Firmen kontaktiert und die ersten Ausstattungsgegenstände beschafft.

Am 23.01.1995 wandte sich die THW-Helfervereinigung dann an den Leiter der Berufsfeuerwehr Frankfurt, um die versicherungsrechtlichen Probleme von Übungen in großer Höhe zu erörtern. Denn weite Teile der Unfallverhütungsvorschrift (UVV) "Feuerwehren", die Abseilübungen aus mehr als 8 Metern Höhe verbietet, gelten auch für das Technische Hilfswerk. Die am 28.02.1995 eingehende Antwort stimmte hoffnungsfroh: Die UVV Feuerwehren stelle kein Hindernis dar, da die dort festgeschriebene Grenze nur für die herkömmliche Ausstattung gelte; mit besserer Ausstattung seien selbstverständlich auch Übungen in größerer Höhe möglich - vorausgesetzt, dass eine kontinuierliche Gewöhnung der Helfer an die entsprechenden Höhen erfolgt.

Vor diesem Hintergrund trafen sich die interessierten Helfer am 09.05.1995 zur Gründung einer - noch inoffiziellen - Projektgruppe "Höhenrettung". Erwähnenswert ist, dass sich dabei auch Helfer befanden, die das THW nach Ende ihrer Verpflichtungszeit eigentlich verlassen wollten, in der neuen Aufgabe plötzlich aber eine Motivation sahen, ihre Mitwirkung noch einige Jahre lang fortzusetzen. Bereits am 29.03.1995 hatte sich der Ortsbeauftragte erstmals mit der Bitte an den Landesverband gewandt, Abseilübungen mit geeigneter Ausstattung auch aus größerer Höhe zu genehmigen. Die Antwort auf dieses Schreiben erhielten die Helfer am 12.07.1995. Zwar wurden dem Ortsverband nun Abseilübungen aus 15 Metern Höhe genehmigt, allerdings nur mit dem THW-eigenen Rollgliss-Gerät. Als Begründung wurde ausgeführt, dass Höhenrettungsgruppen sicherlich nicht ohne Grund nur bei Berufsfeuerwehren angesiedelt wären, und dass die Abseiltechnik aus 80 Metern Höhe die gleiche sei wie aus 15 Metern, was also ausreichen würde, um die technischen Handgriffe zu erlernen.

Im Herbst des gleichen Jahres mussten die Braunschweiger Helfer dann aber in der von der THW-Leitung herausgegebenen Zeitschrift "Technisches Hilfswerk" lesen, dass der benachbarte Ortsverband Schöningen Abseilübungen bei den Braunschweigischen Kohlebergwerken aus mehr als 25 Metern Höhe durchgeführt hatte. Am 22.06.1996 wurde daher ein neuerliches Schreiben an den Landesverband abgesandt, in dem noch einmal folgende Argumente für die Höhenrettungsgruppe angeführt wurden:

1. Die herkömmliche Feuerwehr- bzw. THW-Ausstattung ist für Einsätze in großen Höhen völlig ungeeignet, da sie lediglich statische, aber keine dynamischen Belastungen aufnehmen kann. Selbst das Rollgliss ist für Höhenrettungseinsätze ohne weiteres Zubehör nur bedingt tauglich.

2. Mit der herkömmlichen Ausstattung sind gemäß § 22 der UVV Feuerwehren Abseilübungen - zu Recht! - nur bis 8 Metern Höhe gestattet. Im Einsatzfall wird hingegen erwartet, dass unsere Helfer - ohne im mindesten hieran gewöhnt zu sein und mit ungeeigneter Ausstattung - Menschen auch aus größeren Höhen retten. Welche Führungskraft vermag diese Verantwortung zu tragen?

3. Unserer Fürsorgepflicht entsprechen wir viel eher, wenn wir - wie ja auch bei den Atemschutzgeräteträgern - eine bestimmte Gruppe geeigneter Helfer mit besserer Ausstattung versehen und speziell für Höhenrettungseinsätze ausbilden.

4. Bei Höhenrettungsübungen mit geeigneter Ausstattung wird - auch nach Ansicht der zuständigen Versicherungsträger - nicht gegen die o.g. UVV verstoßen, da die 8-Meter-Grenze nur für die herkömmliche Ausstattung gilt. Insofern bedarf der Ortsverband eigentlich gar nicht der Genehmigung für Abseilübungen aus größeren Höhen, sondern lediglich der Genehmigung, die bessere Ausstattung überhaupt einsetzen zu dürfen.

5. Die Kosten für die zusätzliche Ausstattung sind bislang von der THW-Helfervereinigung Braunschweig übernommen worden. Falls die ärztliche Untersuchung der betreffenden Helfer nach G 41 zur Genehmigungsvoraussetzung erhoben würde, würden auch diese Kosten von der Helfervereinigung getragen.

6. Bislang existiert im Großraum Braunschweig keine andere Höhenrettungsgruppe. Die hiesige Berufsfeuerwehr wird keine eigene Höhenrettungsgruppe aufstellen und verfolgt den Aufbau unserer inoffiziellen Gruppe daher mit wachem Interesse.

Das Schreiben schließt mit den Worten: "Dem THW bietet sich hier in Braunschweig die Chance, seine Innovationskraft und Entschlussfähigkeit zu demonstrieren. Nicht das Denken in verkrusteten Strukturen hält eine Organisation lebendig, sondern einzig und allein ihre Innovationskraft."

Eine Antwort auf dieses Schreiben hat der Ortsverband nie erhalten. Gleichwohl wurde die Höhenrettungsgruppe von den Verantwortlichen geduldet. Denn die junge Einheit trat in zunehmendem Maße auch in die Öffentlichkeit, beispielsweise mit einer Übung am Baugerüst der St.-Katharinenkirche im Mai 1996, beim Tag der Niedersachsen in Wolfenbüttel im Juni 1996 oder bei der "Verhüllung" des Turms der St.-Pauli-Kirche im September 1996. Über den Tag der Niedersachsen schrieb der Landesbeauftragte bereits: "Auch die erstmals beteiligte - noch inoffizielle - Höhenrettungsstaffel aus Braunschweig hat sich mit spektakulären Abseilaktionen gut in Szene gesetzt und die große Vielseitigkeit des THW-Einsatzspektrums eindrucksvoll unterstrichen." Ein Wandel in den Köpfen wurde erkennbar. Von besonderer Bedeutung für den Ortsverband war auch die Tatsache, dass inzwischen drei Berufsfeuerwehrleute in der Höhenrettungsgruppe mitwirkten, was erheblich zum Zusammenwachsen der beiden Organisationen beitrug und bundesweit einmalig war. Auf Betreiben der Braunschweiger Berufsfeuerwehr wurde die Höhenrettungsgruppe im November 1996 durch Höhenretter der Berufsfeuerwehr Magdeburg überprüft. Bei dieser Leistungskontrolle wurden der Gruppe fundierte theoretische und praktische Kenntnisse bescheinigt. Bemängelt wurde lediglich, dass die derzeitige Stärke der Gruppe für eine Einbindung in die örtliche Gefahrenabwehr noch nicht ausreiche und dass die Ausstattung in einigen Punkten noch unvollständig sei. Die Berufsfeuerwehr teilte am 27.01.1997 mit, dass der Aufnahme in den Einsatzleitrechner keine Hindernisse mehr im Weg stünden, sobald die Forderungen der Magdeburger Kollegen erfüllt seien und die THW-Leitung die Höhenrettungsgruppe offiziell anerkannt hätte. Im Frühjahr 1998 konnte der Leiter der Höhenrettungsgruppe, Gruppenführer Ralf Hildebrandt, von einer längeren Krankheit genesen, endlich den Lehrgang "Ausbilder Höhenrettung" an der Brand- und Katastrophenschutzschule Heyrothsberge besuchen - zum vierten Mal fiel ein THW-Lehrgang auf seinen Geburtstag. Im gleichen Jahr trafen sich die Helfer mehrfach zum Erfahrungsaustausch mit Helfern aus den Ortsverbänden Hamburg-Altona und Berlin-Steglitz, die ebenfalls inoffizielle Höhenrettungsgruppen im Aufbau hatten.

Nach zahlreichen Gesprächen, die der zuständige THW-Geschäftsführer nun "intern" führte, wurde die Höhenrettungsgruppe am 17.08.1998 endlich von der THW-Leitung als "Pilotprojekt" genehmigt, zunächst für die Dauer rund eines Jahres. Seit dem erfolgreichen Abschluss dieses Pilotprojektes darf die Gruppe nun den Titel "Projektgruppe Höhenrettung" führen. Die Einbindung der Höhenretter in die örtliche Gefahrenabwehr der Stadt Braunschweig wurde durch einen Vertrag geregelt, der am 01.06.1999 unterzeichnet wurde. Diesen Erfolg konnten Jan Kämpen und Ralf Hildebrandt leider nicht mehr im Amt erleben, da beide kurz zuvor ihren aktiven Dienst aus beruflichen Gründen beenden mussten. Nach vorübergehender kommissarischer Verwaltung dieses Amtes wurde Tobias Kassel im Dezember 2000 Leiter der Braunschweiger Höhenrettung. Im folgten Kilian Stumpp und Albrecht Götz. Seit Ende 2011 ist Florian Immel der Gruppenführer der Höhenrettung.